Last Updated on 19. Juni 2024 by Inka
Dem kleinen schwedischen Wörtchen „Lagom“ haben schon so manche Blogger und Seitenbetreiber einen Beitrag gewidmet. Die AOK verkauft es als nachahmenswertes Vorbild für innere Zufriedenheit, das Fährunternehmen Finnlines als skandinavische Glücksformel und die Touristeninformation VisitSweden als Ausdruck skandinavischen Lebensstils. Ich habe das Wort in den fast neun Jahren, die wir nun in Schweden leben, genau einmal gehört. Wieviel ist an den deutschen Interpretationen also wirklich dran?
Im Sommer 2022 hatte unsere Kommun zum Scensommaren eingeladen. So heißt ein Ferienprogramm, unter dessen Namen jeden Sommer verschiedene kostenlose Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche angeboten werden. Bei uns im Ort sind zum Beispiel zwei Clowns im Gemeindehaus aufgetreten, die für die Kindergartenkinder kleine Kunststücke und Sketche vorführten. Die Vorstellung dauerte etwa eine dreiviertel Stunde – also lang genug, um die Kinder zu unterhalten, ohne aber die Aufmerksamkeitsspanne von Drei-, Vier- und Fünfjährigen überzustrapazieren. Als wir uns anschließend alle vor dem Ausgang trafen und uns einig waren, dass sich der Besuch gelohnt hat, sagte eine Mutter begeistert: Ja, det var lagom – genau richtig. Nicht zu kurz, und nicht zu lang. Damals hatte ich das Wort das erste Mal bewusst von einem Schweden gehört.
Lagom ist ein schwedisches Adjektiv
Lagom ist ein schwedisches Adjektiv. Wenn ich in meinem Langenscheidts Schwedisch-Wörterbuch nachschlage, was lagom bedeutet, findet ich die Übersetzung: gerade recht, genug, genügend, passend, angemessen. Ich finde diese Begriffe allerdings nicht wirklich passend, weil ihnen etwas mittelmäßiges, zufriedenstellendes anhaftet. Tatsächlich ist lagom nämlich meistens absolut positiv besetzt. Wenn der Sommer lagom varm war, herrschte genau die richtige Temperatur. Wenn das Essen lagom saltat ist, war es genau richtig gewürzt. Trotzdem ist auch eine ironische Verwendung möglich, ebenso, wie man es im Deutschen von der Formulierung „nur so mittel“ kennt. Zum Beispiel:
- Lagom kul att jag brutit benen: Nur so mitteltoll, dass ich mir das Bein gebrochen habe (gemeint ist: doof).
- Det var ju lagom smart: Das war nur so mittelschlau (gemeint ist: dumm).
- Sieht er gut aus? – Lagom (gemeint ist: naja, geht so).
Lagom ist Trend – außerhalb Schwedens
Während lagom also in Schweden einfach nur ein Wort ist, um einen Zustand zu benennen, hat es sich außerhalb Schwedens zu einem richtigen Modewort etabliert. Jeder spricht drüber: vor allem Blogger, Ratgeberautoren und Lifestyle-Coaches haben das Wort und die schwedische Formulierung lagom är bäst für sich entdeckt. Weil beidem der Hauch von Ausgewogenheit anhaftet und es deshalb gut zum Gedanken des schwedischen Jantelagen passt, also der Eigenschaft der Schweden, sich nicht gerne hervorzutun, wurde drumherum nämlich eine richtige Philosophie konstruiert: Die AOK verkauft es als nachahmenswertes Vorbild für innere Zufriedenheit, das Fährunternehmen Finnlines als skandinavische Glücksformel und die Touristeninformation VisitSweden als Ausdruck skandinavischen Lebensstils. Wenn man die deutschen Autoren so hört, könnte man glauben, dass sich lagom hier in Schweden als Geisteshaltung quasi gleich hinter der Achtsamkeit einreiht.
Das Fährunternehmen Finnlines schreibt:
Das österreichische Einrichtungshaus Grüne Erde schreibt:
Lagom kommt von lag (Gesetz)
Diese Interpretationen werden dadurch befeuert, dass sich so viele Faktoiden um das Wort verbreitet haben. Ein Faktoid ist eine falsche Aussage oder Behauptung, die aber so häufig wiederholt wurde, dass sie für wahr gehalten wird. Zum Beispiel zu seiner Herkunft: gerne wird es auf laget om zurückgeführt, was so viel wie „einmal für die gesamte Mannschaft“ bedeutet. Dazu wird das Bild von Wikingern beschrieben, wie sie um das Lagerfeuer saßen und ihr Trinkhorn kreisen ließen. Der Legende nach durfte jeder nur einen kleinen Schluck nehmen, damit der Inhalt für alle reichte. „Falsch“, sagt aber die Schwedische Akademie. In ihrem Wörterbuch führt die Svenska Akademien die Etymologie von lagom auf das schwedische Wort lagen zurück, was „Gesetz“ bedeutet. Die Endung –um kommt aus dem Altschwedischen und zeigt den Dativ Plural an (zur Quelle). Zusammengesetzt bedeutet das altschwedische laghum deshalb also „nach dem Gesetz“ oder „gesetzesmäßig“. Umgangssprachlich wurde es für „wie es sein sollte“, „passend“ oder „angemessen“ verwendet. Im Laufe der Zeit wurde lagom zunehmend als Synonym für „durchschnittlich“ oder „normal“.
Lagom gibt es in vielen Sprachen
Eine weitere Fake-News: dass das Wort lagom nur in der schwedischen Sprache vorkommt und in keiner anderen Sprache eine Entsprechung hat. Deshalb hat der schwedische Sprachwissenschaftler Mikael Parkvall danach auch sein Buch benannt: Lagom finns bara i Sverige: och andra myter om språk. Bei dem Cover rechts handelt es sich übrigens um keinen Affiliate-Link.
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